«Platz da! Sie stehen im Weg!» Unfreundlich und hastig weist mich ein Handwerker, der gerade seinen Wagen beladen will, zurecht. Das ist verständlich, denn auf der engen Strasse herrscht ein dichtes Gedränge und ein ohrenbetäubender Lärm! Der Ort, an dem ich mich gerade aufhalte, ist erfüllt von pulsierendem Leben, von reger Geschäftigkeit und der typischen Atmosphäre einer Grosstadt. Nur: Wir schreiben gerade das Jahr 50 n. Christus. Dies ist Rom, die erste Metropole, die zu dieser Zeit nachweislich von mehr als einer Million Menschen bevölkert worden ist.
Es war damals nicht anders als heute: Um dem Lärm und Stress zu entgehen, blieb dem Städter nichts anderes übrig als die Flucht an einen ruhigeren Ort, ausserhalb der Stadt oder – wenn sein Vermögen es zuliess – in ein beschauliches Aussenquartier. Oder gibt es doch noch einen dritten Ausweg? «Ja» sagt Seneca, der berühmte Philosoph, der einen Teil seines Lebens in dieser Stadt verbrachte. Die Philosophie! Glücklich ist, wer sich vom Unbill des Lebens nicht treiben lässt wie ein Blatt im Wind, sondern auf alles gefasst ist und dem Schicksal mit stoischer Ruhe und Gelassenheit entgegensieht: «Alles kommt weniger schlimm, wenn man mit allem rechnet.»
Das menschliche Glück liegt nicht in Geld, Ruhm oder Macht begründet, sondern in einem vernunftgemässen Leben. Vieles, was uns in Atem hält, ist in Wirklichkeit nur Schattenriss. Der Weg zur Glückseligkeit führt nicht über das Konsulat, sondern über das philosophische Studium.
Doch dies ist auch keine Einladung zum Rückzug in den philosophischen Garten, wie Epikur ihn empfiehlt. Der Weise soll seine Kräfte stets erproben und sich so gegen die Schläge des Schicksals stählen – wie der Soldat im Gefecht! Und Senecas Forderungen gehen noch weiter: Der Weise legt alle Leidenschaften ab, er kennt weder Zorn, noch Begierde, noch Furcht.
Wer sich für Senecas Schriften interessiert findet im Buchhandel eine grosse Auswahl an Büchern. Viele davon haben aber einen Makel: Sie enthalten nur Zitate, Sprüche und Auszüge aus Senecas umfangreichem Werk. So gibt es zum Beispiel «Seneca für Gestresste», eine Sammlung von Zitaten, welche Zeit, Arbeit und einiges mehr zu diesem Themenkreis enthalten. Aber es bleiben Fragmente, sie vermitteln gleichsam einem Mosaikstein nur einen Teil des Gesamten. Und das Gesamtwerk des antiken Denkers ist nach wie vor hochaktuell, spannend und in einer bildhaften Sprache stets glänzend und unterhaltsam formuliert.
Als der Marix Verlag vor einigen Monaten eine Gesamtausgabe als Taschenbuch veröfentlichte, griff ich zu. Seitdem liegt das über 1000 Seiten dicke Buch auf meinem Arbeitstisch, jederzeit in Reichweite. Ich habe einen grossen Teil davon gelesen und werde nicht ruhen, ehe das Lesezeichen die letzte Seite erreicht hat!
Keine Zeit zum Lesen? «Wir haben nicht zuwenig Zeit, wir vergeuden zuviel!»