Es ist ein schöner Sommermorgen und auf dem Marktplatz im Stadtzentrum von Athen herrscht ein reges Treiben. In der Nacht fiel etwas Regen und die Menschen geniessen die morgendliche Frische, bald wird die griechische Sonne ihren Zenith erreicht haben; die Bewohner der Polis werden dann in ihren Häusern oder an einem schattigen Platz Schutz vor der Hitze suchen. Aber noch ist es nicht soweit und wer sich auf dem Mark umsieht, findet Händler aus allen Ländern des Mittelmeerraumes, die mit kräftiger Stimme ihre Waren anpreisen: Gewürze und Stoffe aus Persien, Arzneien, Farben und wertvoller Schmuck aus Aegypten, Waren aller Art aus Gallien, Phhönizien und Rom. Laut bieten die Händler den Marktgängern ihre Waren an, es wird gefeilscht, diskutiert und mancherorts sogar gestritten. Es herrscht ein ziemlicher Lärm, so dass es schwierig ist, sich zu unterhalten. Wir schreiben das Jahr 401 vor Christus.
Mitten in diesem lauten Stimmengewirr treffen wir auf eine kleine Gruppe junger, vornehmer Athener, die sich um einen älteren, recht unansehnlichen Mann in einfacher, fast ärmlicher Kleidung geschart haben. Mit seinem weissen, schütteren Haar wirkt er bereits greisenhaft, sein Gesicht ist rundlich und bedeckt von einer grossen Knollnase, der Körper wirkt unförmig und untersetzt. Aber die Augen des alten Mannen sind klar wie die eines Jünglings und blicken lebhaft und aufmerksam in die Welt. Wer sind diese Leute und wovon handelt das Gespräch, das sie führen? Von einem Gemüsehändler, der unweit der Stadt ein Bauerngut hat, erfahren wir, das der alte Mann Sokrates heisst und so etwas wie ein Lehrer ist. Ein Naturphilosoph oder vielleicht auch ein Sophist der sein Wissen für Geld verkauft. So genau weiss der Marktfahrer dies auch nicht zu sagen, schliesslich kennt er diesen Sokrates nicht persönlich.
Wer war dieser Sokrates? Eine Antwort auf diese Frage gibt uns Olof Gigon in seinem Buch «Sokrates – Sein Bild in Dichtung und Geschichte». Mein Exemplar dieses hochinteressanten Werkes stammt aus dem Jahre 1947. Gigon versteht es wie kaum ein zweiter, spannend und leicht verständlich ein Bild des berühmten Philosophen zu zeichnen. Das Buch ist in vier Teile gegliedert, der erste Teil geht auf die Möglichkeiten ein, die wir haben, um der geschichtlichen Person des Sokrates näher zu kommen. Laut Gigon sind es verschwindend wenige. Denn fast alles, was wir heute von Sokrates wissen, erhalten wir aus den Schriften der Sokratiker. Aber keiner dieser Texte ist biographisch, es sind vielmehr dichterische Werke, die oft ein idealisiertes Bild des Sokrates zeichnen. So bleibt vieles um den grossen Athener rätselhaft. Das ganze erste Kapitel des Buches befasst sich mit dem Themenkomplex Dichtung und historische Authentizität. Am Ende des Kapitels stellt Gigon fest, dass wir aktenkundig nur wissen, wie der Vater des Sokrates hiess, dass Sokrates an einigen Feldzügen teilgenommen hat und dass er im Jahre 399 verurteilt und hingerichtet worden ist. Mit einem fast resignierenden Ton fährt der Professor fort: «Mehr wissen zu wollen, ist unfruchtbares Bemühen. Es muss ja zu nichts führen, wenn man aus Texten, die ausdrücklick nichts als Dichtung sein wollen, mit aller Gewalt historische Angaben herauspressen will.»
Dennoch: Aus der Analyse der vorhandenen Texte kann ein historisches Substrat herausgelöst werden, das wenigstens einige Anhaltspunkte gibt. Und so ist das Thema der folgenden Kapitel das überlieferte Schriftgut der Sokratiker, Platon, Xenophon, Antisthenes, Aischines, Aristippos, Euklides und Phaidon. Gigon erläutert die beiden Prozesse gegen Sokrates, von denen der zweite mit einem Todesurteil endete, die Berufung zur Philosophie, die Familie des Sokrates, sein Verhältnis zum Staat und das Daimonion. Mit einer erstaunlichen Gabe zur Textanalyse, gepaart mit Scharfsinn und einem umfassenden Wissen gelingt es Gigon, uns den sagenumwobenen Athener näherzubringen.
Danke an D. für das Buch.
…was wissen wir eigentlich – what the bleep we know?
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