Nein, es war kein Unbekannter, der vor etwas mehr als einem einem Jahr in das Amt des Bischofs von Rom gewählt worden ist. Joseph Ratzinger, der bei seiner Amtseinsetzung den Namen Benedikt XVI angenommen hat, war schon vor seiner Wahl zum Papst eine weltweit bekannte Persönlichkeit. Kardinal Ratzinger war die rechte Hand seines Vorgängers Karol Wojty?a, Papst Johannes Paul II. Als Präfekt der römischen Glaubenskongragation vertrat und verteidigte Ratzinger die zentralen Glaubenssätze der Kirche und traf Entscheidungen, die oft zu Diskussionen Anlass gaben.
Wichtiger aber ist Ratzingers unermüdlicher Einsatz für den Glauben; in zahlreichen Werken hat er den christlichen Glauben als alte und zugleich neue Perspektive der Hoffnung in einer sakulärisierten Welt angeboten. Der Glaube an Gott ist für Ratzinger nicht eine in Regeln und Dogmen erstarrte Tradition, die schablonenhaft unser Tun und Lassen vorschreibt. Der Glaube ist vielmehr ein lebendiges, jeden Tag neu erstehendes Erleben der Verbindung mit Gott, eine sinngebende Erfahrung, die in einer Zeit der «Umwertung aller Werte» Halt, Trost und Zuversicht gibt. Dies ist der Geist, von dem das literarischen Werk Ratzingers durchdrungen ist. Das schriftliche Werk des gegenwärtigen Papstes ist umfangreich. Gewiss, es ist nichts ungewöhliches, dass Päpste Bücher schreiben, auch Johannes Paul II hat dies getan; sein letztes Werk, «Erinnerung und Identität», entstand ein Jahr vor seinem Tod. Doch Ratzingers literarisches Schaffen ist ungewöhnlich: Es ist das Werk des wohl brillantesten Theologen und Systematikers der Gegenwart, sein Rahmen umspannt nicht nur Fragen des Glaubens, sondern auch eine fundierte Auseinandersetzung mit Politik, Kultur und Ethik. Und, was sich daraus ergibt, das Neben- und Miteinander dieser Bereiche.
Den wahren Genius erkennt man daran, dass er es versteht, selbst die komplexesten Gedanken in einer Weise zu formulieren, dass jeder sie verstehen kann. Und Ratzinger verfügt über dieses seltene Talent. Viele seiner Werke richten sich an ein breites Publikum, sind Bücher, die gelesen werden wollen. Bücher, die sich tiefsinnig mit Fragen unserer Zeit auseinandersetzen, dem Leser aber dennoch eine leicht erschliessbare Lektüre bieten. Ratzingers Bücher sind anregend, sie geben Antworten, stellen zugleich aber auch neue Fragen, regen zum Denken an, wollen reflektiert werden.
Zu seinem neuesten Werk, «Jesus von Nazareth», ist Joseph Ratzinger lange unterwegs gewesen, wie er selbst sagt. Und: «Gewiss brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens „nach dem Angesicht des Herrn“».
Ratzingers neues Buch will dem Leser die Person Jesus Christus näher bringen, will eine Tür öffnen, durch die ein Weg zum besseren Verstehen des Nazareners führt. Freilich haben dies zahlreiche andere Autoren schon vor Ratzinger getan. Mit der historisch-kritischen Foschung haben sie versucht, den historischen Jesus von allen Schichten der Traditionen und Überlieferung freizulegen und so zu präsentieren, wie er tatsächlich gewesen sein soll. Daraus entstanden dann aber sehr unterschiedliche Lebensbilder des Mannes aus Galiläa. Er steht nun vor uns als Zelot, der gegen die römische Herrschaft aufbegehrt und deswegen mit dem Kreuzestod bestraft wird; als bescheidener, sanftmütiger Religionslehrer oder als Angehöriger der Essener, einer klösterlichen Glaubensgemeinschaft der damaligen Zeit. Gemäss Ratzinger ergibt sich daraus ein zunehmend unscharfes Bild des Galiläers, das den Leser mehr verunsichert als informiert. Wird Jesus von seiner biblischen Mission losgelöst, entsteht ein Graben zwischen dem unstimmig gewordenen Bild des «historischen» Jesus und dem Messias des neuen Testaments. Offenbarte sich Jesus seinen Jüngern als lebendiger Sohn Gottes, so wie es in den Evangelien nachzulesen ist? Oder wurde er erst später von seinen Anhängern dazu gemacht, um auf seiner Lehre das Fundament eines neuen Glaubens aufbauen zu können? Ratzingers Antwort: Nur wenn wir den Evangelisten Glauben schenken, entsteht ein stimmiges Bild von Jesus Christus, das ihn uns wirklich näher bringt. Durch das Studium des neuen Testaments entsteht ein wahrhaftes und klares Bild des Nazareners, über sein Selbstverständnis, sein Leben und Wirken im Kontext der damaligen Zeit. Wird Jesus Botschaft von seinem Leben abgetrennt, bleibt nur ein schattenhaftes Bild. Um dies zu illustrieren, verweist Ratzinger neben anderen Beispielen auf die ältesten christlichen Texte, die Paulusbriefe. Obwohl einige davon nur 20 Jahre nach Jesus Tod abgefasst sind, ist darin die ganze christliche Theologie fertig entwickelt: Jesus als der auferstandene Sohn Gottes, der uns durch seinen Kreuzestod von unseren Sünden erlöst und das ewige Leben schenkt. Wäre Jesus nicht der Christus gewesen, von dem die Evangelien berichten, dann hätte die christliche Theologie, so wie Paulus sie vor uns entfaltet, aus einer anderen, uns unbekannten Quelle entstammen müssen. Ein Gedanke, der letzten Endes ins leere führt. Dass Jesus eine historische Persönlichkeit ist, kann nicht geleugnet werden. Und dass er zum Tode verurteilt worden ist, muss Gründe haben, die mit dem unorthodoxen Auftreten eines Predigers nicht gegeben sind. Was Jesus von sich selbst gesagt hat, ist unmissverständlich und muss das religiöse Establishment der damaligen Zeit in Aufruhr versetzt haben: Jesus predigte nicht einfach irgendetwas; er vergab Sünden (was nach jüdischem Verständnis nur Gott kann), er erneuerte das mosaische Gesetz, er heilte Kranke und Invalide, er setzte sich selbst ein als Herr über den Sabbat, und schliesslich: er bezeichnete sich selbst als der wahrhaftige Sohn Gottes.
Dies, die Göttlichkeit Jesu, ist die zentrale Botschaft der Evangelien, das Geheimnis, das die Evangelisten kontinuierlich aufschliessen und begründen. Ratzingers Buch ist eine Exkursion durch die zentralen Ereignisse im Leben Jesu, so wie sie in den Evangelien niedergeschrieben sind. Auf dieser Exkursion erläutert der grosse Theologe die Bedeutung dieser Ereignisse, stellt sie in den Kontext der Zeit und in die jüdische Tradition und Geschichte. Ratzinger hält ein Licht auf, welches uns das Geschriebene heller und klarer vor Augen führt. So dokumentiert Ratzinger beispielsweise die tiefe Bedeutung der «Ich bin es» Worte im Johannes-Evangelium. Von diesen kraftvollen Selbstzeugnissen führt uns der Verfasser direkt zum brennenden Dornbusch, aus dem Gott zu Moses spricht und sich als «Ich bin der ich bin» vorstellt. Mit seinen «Ich bin» Aussagen bezeugt Jesus seine Einzigartigkeit: «Ich und der Vater sind eins».
Das neue Buch von Benedikt XVI knüpft an die bestehenden Werke an, es ist ein Buch, das tiefesinnige Gedanken vermitteln kann, ohne dabei kompliziert oder unverständlich zu werden. Und es ist ein Buch, das ein in der Reihe der Werke über Jesus Christus einen bedeutenden Platz einnehmen wird.