In den Jahren 1840 bis 1845 übernahm der berühmte Schweizer Volksdichter Jeremias Gotthelf die alleinige Redaktion für den «Neuen Berner Kalender«. Kalender, bis heute auch &Brattig» genannt, sind jährlich erscheinende Kalender, die sich vorwiegend an eine ländliche Bevölkerung richten. Neben einem astronomischen Kalender gibt es vielfältige Informationen für Saat, Acker und Garten. Aber auch Unterhaltsames und Lehrreiches: Geschichten, Reportagen, Gedichte und Fachartikel.
Der neue Berner Kalender wurde 1838 von der Bernischen Gemeinnützigen Gesellschaft gegründet und in Bern verlegt. Aus dem Vorwort der Ausgabe von Hans Rudolf Christen ist zu erfahren, dass der Absatz des Kalenders während den ersten Jahren nicht den Erwartungen entsprach. So gelangten die Verleger an Jeremias Gotthelf mit der Bitte, die Redaktion zu übernehmen. Und Gotthelf ging auf diese Bitte ein. Er sah im Kalender eine Möglichkeit, seine eigenen Schriften einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Gotthelf schrieb nicht um zu unterhalten; seine schriftstellerisches Werk war der Volkserziehung gewidmet. Gotthelf kannte die Probleme und Missstände seiner Zeit, die Not und die alltäglichen Sorgen seiner Mitmenschen. In seiner kraftvollen und bildhaften Sprache wies er auf die Probleme hin und zeigte Wege zu Lösung. Und er tat dies nicht in der Art eines kühlen Gelehrten. Nein, seine Geschichten spielen mitten im Leben jedes Einzelnen. Sie erzählen von den Sorgen und Nöten in Haus und Hof, in Schule und Kirche, in Stadt und Land.
Und so erstaunt es nicht, dass Gotthelf nicht den redaktionellen Status Quo des Kalenders beibehalten wollte. Aus «Rezepten wie Wanzen zu vertreiben seien und wie viel Junge die Steinböckin habe» sein kein vernünftiger Kalender zu machen. So entwarf Gotthelf die Kalenderpredigten, die den inhaltlichen Kern der sechs folgenden Ausgaben bilden sollten.Diese Predigten waren in ihrer Art neu, wie der Name «Kalenderpredigt», den Gotthelf selbst für dieses Vorhaben schuf. Die sechs Predigten sind geprägt von einer tiefen Wahrheit, jedoch entkleidet von allem Kirchlichen und verfasst in einer lebensnahen Sprache, die den Leser unmittelbar berührt und zu einem Teil des Stoffes werden lässt.
Das Ende des berühmten Hohelied des Apostels Paulus gipfelt in der Zuversicht: Am Ende aber bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe. Am höchsten aber steht die Liebe. Gotthelfs Kalenderpredigten haben diese drei Werte zum Thema und erweitern sie noch durch Demut, Sanftmut und Furcht. Alle Predigten sind nebst ihrer sprachlichen Schönheit von zeitloser Weisheit durchdrungen. So haben die Betrachtungen des Volksdichters auch nach 200 Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren. In der Predigt über die Demut beispielsweise lässt der Dichter die Menschen erkennen, dass Demut nichts künstliches oder aufgesetztes ist, sondern das Ergebnis der Selbsterkenntnis und der Vorstellung eines allmächtigen Gottes. Demut, wie auch Liebe und Sanftmut sind der feste Grund, auf dem ein glückliches und gelingendes Leben steht. Konstrastreich schreibt Gotthelf dann, wie durch Geringschätzung dieser Tugenden Leid und Unglück entstehen.
Gotthelfs Kalenderpredigten sind volkstümlich. Schalkhafte Bemerkungen haben ihren Platz, genauso wie hin und wieder ein kräftiger Seitenhieb gegen Gotthelfs politische Gegner. Über allem steht aber steht eine feste Zuversicht, dass ein erfülltes Leben und ein glückliches Miteinander in jedem Moment unserer Existenz möglich sind.
Das von Hans Rudolf Christen gestaltete Werk ist auch etwas für Bibliophile. Es macht macht Freude, in diesem hübsch gestalteten Büchlein zu lesen. Bezogen werden kann das zuletzt 1986 im Elvisia Verlag erschienene Buch im Gotthelf-Museum in Lützelflüh.