Oberhalb der Kirche von Lützelflüh steht schon seit einigen Wochen ein riesiges Plakat, auf dem die Augen des berühmten Dichters Jeremias Gotthelf zu sehen sind. Am Abend wird das Plakat beleuchtet, es ist dann an seinem günstig gewählten Platz über dem Dorf besonders gut zu sehen. Dem Betrachter fällt es bereits auf, wenn er über die Anhöhe zwischen Hasle-Rüegsau und dem Dorf des Dichters fährt. Zuerst, noch rund einen Kilometer entfernt, ist es ein grosser, heller Leuchtpunkt am Berg. Erst wenn der Abstand kürzer wird, sind die Augen des berühmten Volksdichters deutlich zu sehen.
So steht das Plakat am Hang über der Kirche, regt zum Hinsehen an, aber auch zum Nachdenken. Gewiss steht die Installation an einem Platz, an dem der Dichter selbst mehrmals vorbei gekommen ist. Vielleicht hat sich Gotthelf auf dem Rainbergliweg umgedreht, um das Dorf sehen zu können, das nun von dem erhöhten Punkt aus zu sehen war. Das Sehen und Erkennen war immer wieder ein wichtiges Thema für Gotthelf. Er selbst ging mit wachen und scharf beobachtenden Augen durch die Welt seiner Zeit. Und durch seine Schriften machte er das, was ihn bewegte auch für andere Menschen erkennbar. Und, wie viel Schönes hält doch das Leben für uns bereit, wenn wir genau hinsehen:
«Die Welt wäre eigentlich voller Freuden, man könnte deren auflesen bei jedem Schritt und Tritt; aber man muss eigene Augen haben, sie zu sehen, man muss eine Art von Glückskind dafür sein.»
Auf einem Plakat über dem Dorf sind die Augen des Mannes zu sehen, für den das klare und vorurteilsfreie Hinsehen und Erkennen so wichtig war. Und wenn wir das leuchtende Augenpaar Gotthelfs sehen, am hellen Tag wie auch in der dunklen Nacht, dann ist dies wie eine Einladung, auch unsere eigenen Augen im Sinne des Dichters zu nutzen. Und dazu gehört natürlich auch das Lesen von Gotthelfs Werken.
Da, wo Gotthelf auf einem Bild über das Dorf blickt, öffnet sich auch eine weite Sicht über das Emmentaler Dorf hinaus; zu sehen sind die weiter entlegenen Ortschaften, die Emmentaler Hügel und am Horizont die schneebedeckte Schrattenfluh, die an manchem schönen Tag weiss und silbern unter dem blauen Himmel leuchtet. Es ist dasselbe Bild, so wie es auch der Poet vor 150 Jahren erblickt haben mag. Aber es ist nicht dasselbe wie damals, ist es doch während all den Jahren von Menschenhand verändert worden. Auch wir selbst verändern uns, bleiben nicht dieselben, während die Zahl der Lebensjahre zunimmt. Am Leben sollen wir reifen und mit immer wieder neuem, an Erfahrung und Weisheit reicherem Sehen unsere Umwelt wahrnehmen – und zum Guten hin annehmen.