Die lang erwartete Zeit der ersten Sommerwochen ist gekommen. Und für für viele Schweizerinnen und Schweizer heisst dies auch, den Mutz oder die Tracht anzuziehen – trotz der sommerlichen Temperaturen. Die Zeit der Jodlerfeste ist endlich da!
Die Unterverbandsfeste im allgemeinen und das «Eidgenössische» im besonderen sind zu vielbeachteten Grossveranstaltungen geworden, die mehrere 10.000 Besucher anlocken, am eidgen. Jodlerfest in Luzern trafen sich 2009 mehr als 200.000 Besucher und 12.000 Aktive am Seebecken der Leuchtenstadt. Ein neuer Rekord. Diese grossen Veranstaltungen der Fahnenschwinger, Alphornbläser und Jodler erfreuen sich einer ungebrochenen Beliebtheit und üben eine eigenen Zauber aus auf alle, die dabei sind. So berichten gleichermassen Aktive wie Gäste auch nach vielen Jahren noch von den Erlebnissen in Aarau, Huttwil oder Altdorf.
Besucher fühlen sich an Jodlerfest nicht einfach nur als Zuhörer oder Beobachter. Das Geschehen am Fest ist kein passives Erlebnis, es ist vielmehr ein Mitmachen, ein Mitsingen im «Jodlerdörfli» und Mitfiebern bei den Wettvorträgen. Jodlerfeste sind tief geprägt von einem Geist der Zusammengehörigkeit. Sie sind durchdrungen von einer eigenen Atmosphäre der Spontanität und Freude, die kaum in Worte gefasst werden kann. Aber Jodlerfeste möchten auch gar nicht beschrieben werden, sie wollen mit Herz und Seele miterlebt werden. Gerade so wie in der Aufforderung eines bekannten Jodellieds*: «Los nid zue, nei bruch mit Stolz di Stimm!».
Lebenskünstler Emmentaler Jodler aus Konolfingen
Doch bevor ich nun ob aller Vorfreude auf das kommenden Berner Jodlerfest in Langenthal noch mehr ins Schwärme gerate, sollen zwei Fragen thematisiert werden. Erstens: was ist es, das die Faszination des Jodelliedes und der Alphornweise ausmacht? Wo liegt das Geheimnis dieser urtümlichen und traditionsverbundenen Form des Musizierens? Im Vorfeld der Feste wird über diese Frage oft in der Tagespresse spekuliert. Allzugerne wird dann auf die These der «Zukunftsverlierer» zurückgegriffen, die etwa so zusammengefasst werden kann: wem die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft nicht behagen, findet in der zur Idylle geformten Vergangenheit Geborgenheit und einen Zufluchtsort. Doch so verbreitet diese These auch sein mag, so führt sie letztendlîch doch in die falsche Richtung. Dies hat auch Peter Keller erkannt. Der studierte Historiker und Kulturredaktor singt seit zehn Jahren in einem Jodlerklub und findet eine Erklärung für das Phänomen auf der metaphysichen Ebene: «Es gibt diese magischen Momente beim Singen. Wenn sich der Körper mit Musik füllt. ‹Äs choret›, sagt man dann. Ein unübersetzbarer Ausdruck. Der Chor ist ganz bei sich selbst. Er reduziert sich gewissermassen auf seinen reinsten Zweck: den gemeinsamen Klang zu bilden.»**
Dieses Empfinden, vereint mit dem Erleben der alpinen Freiheit, die ihre Grenzen erst in der ewigen Weite des Himmels und zuletzt bei Gott findet, bilden gemäss Keller die Kraft, die die Jodler zu einer festen Gemeinschaft zusammenschweisst.
Und die zweite Frage: Ist diese Idylle, die da besungen wird, nicht ein Trugbild? Eine Scheinwelt, die so nie existiert hat? Gewiss, Viele Jodellieder besingen ein heile und intakte Alpenwelt, ein Leben frei von allen Sorgen und Beschwernissen, ein tiefes Glücksgefühl bei der Alpfahrt und die Erinnerung an eine ebenso glückliche Kinderzeit in der Geborgenheit einer von Liebe und Zuwendung geprägten Familie.
Aber eben nicht alle. Die Texte vieler Jodlerweisen wenden sich auch den Sorgen und Nöten der Menschen, den Problemen des Alltags zu. Besungen wird dann die Kameradschaft, die sich bewähren muss, ein Treuebruch mit schweren Folgen und zuletzt auch Krankheit und die Trauer im Sterben und Abschied nehmen. Die Aktiven beweisen selbst im alltäglichen Leben immer wieder, dass das Jodeln keinesfalls mit dem Rückzug in eine Scheinidylle gleichgesetzt werden kann. Eher das Gegenteil trifft zu. Gerade das Singen von einer heilen Alpenwelt und vom Lebensglück kann den Blick für die Geschehnisse des Alltags schärfen. Und umgekehrt wäre es verhängnisvoll, wenn wir ob aller Probleme den Blick auf das Schöne verlieren würden. Erst durch das Trübe entdecken wir, wie schön das Helle ist. Wenden wir uns nur noch dem Hellen zu, wird unser Leben oberflächlich. Und wenn wir nur noch das Trübe sehen, wird unser Leben trost- und hoffnungslos. Davor wollen uns die Jodler bewahren.
In diesem Verhältnis von Licht und Dunkelheit ist ein wichtiger Wegweiser zu finden, der wieder zur ersten Fragen nach dem Erfolgsrezept der Jodler führt. Es ist ein Ziel des menschlichen Lebens, die richtige Mitte zwischen diesen beiden Extremen zu finden. Der schöne Lösungsansatz der Jodler besteht darin, einen tiefen Schritt in die lichte Seite zu wagen, ohne dabei die Bodenhaftung zu verlieren. Und genau durch diese Kunst gewinnen die Akteure. Sie öffnet der Empfindung all die Bilder, die im alten, traditionellen Jodellied besungen werden. Mit ihren Vorträgen beschenken die Jodler somit nicht nur ihre Zuhörer, sondern auch sich selbst in einer besonderen Weise. Hand aufs Herz: wer sehnt sich nicht im innersten nach der Idylle, die in vielen Melodien von Robert Fellmann oder Adolf Stähli vermittelt wird? Oder möchte einmal von Soldanellen und «Ankebälli» singen und so neu entdecken, dass die schönen Dinge des Lebens oft im kleinen und unscheinbaren zu finden sind.
Wer jodelt verträumt sein Leben nicht, aber er nimmt sich die wohltuende Freiheit, hin und wieder zu träumen, von einer harmonischen, intakten Welt. Und wenn beim Verklingen der letzten Strophe ein Funke aus dieser gefühlten und besungenen Sonnseite den Weg in unser Leben findet, dann hat das Jodellied sein Ziel erreicht.
* Jodlerfreud von Carl Hess
** Peter Keller: Soundtrack der Freiheit. Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 27/08.