Es ist, als ob der berühmte Emmentaler Dichter in der Einleitung zu seiner Erzählung «Käthi die Grossmutter» den Blick für die Schönheit des Bernerlandes weit öffnen will. Mit seiner mächtigen und bildhaften Sprache schildert Jeremias Gotthelf in den ersten Zeilen dieser berührenden Geschichte die Entstehung der Schweizer Bergwelt. Mit begnadetem Talent schildert der Dichgterpfarrer die Urgewalten, die vor Jahrmillionen das Alpenmassiv formten und mit den Kräften des Himmels und der Erde das uns vertraute Land aus Bergen und Tälern entstehen liessen. Gewiss ist es nicht zuweit hergeholt, wenn Gotthelfs Einleitung zu Käthi, wie auch zu anderen Erzählungen, mit der strahlenden und virtuosen Ouverture einer grossen Oper verglichen wird: Gotthelf weisst uns zu Beginn einer Geschichte auf das Grosse, Unendliche, weitet unseren Blick, um ihn dann auf das menschliche Geschick zu richten.
Mächtig und kraftvoll ist die Sprache des Dichters, wenn er vor unseren Augen ein Felsmassiv emporwachsen lässt, wenn er schildert, wie ein Sturm über das Land zieht, wie Blitze aus dunklen Wolken zucken und ein bedrohlicher Donner durch die Täler rollt. Doch dann wendet sich alles: von der grossen Genesis gelangt Gotthelf in unsere Zeit, richtet seinen Augenmerk nun auf einen lieblichen, von der Sonne durchströmten Frühlingstag. Auf seinem Weg von der Stufe zur Ewigkeit ist der Dichter auf den grünen Hügeln und Wäldern des Emmentals angelangt, am Ort des Geschehens. Hier wandelt sich die Sprache Gotthelfs, nun schildert der Pfarrer von Lützelflüh gefühlvoll und mit dem Duktus eines Romantikers den Ort der folgenden Geschichte.
Gotthelf findet stets die richtigen Worte, was er beschreibt gewinnt an Farbe, nimmt vor unserem geistigen Auge Form an, wird lebendig, weitet unseren Blick für das, wovon Gotthelf uns erzählt. Da sind die feinen und detailreichen Beschreibungen der Natur in «Geld und Geist», dort ist das gefühlvolle Spätwerk, das Erdbeerimareili, das etwas geheimnisvolles hat und mit verklärten Zügen an ein Märchen anklingt. Da sind die gewaltigen Erzählungen von ehernen Helden in glänzender Rüstung, bereit zum Streit, so wie in der historischen Erzählung «Der letzte Thorberger» oder in «Der Knabe des Tell ». Am Ende der wirklichen Welt angekommen, reicht uns Gotthelf die Hand, um uns nun auch in das Reich der Mythen und Sagen zu führen. Epische Züge weist Gotthelfs Sprache auf, wenn er von Sintram und Bertram erzählt, zwei Brüdern, die in strahlendem Harnisch gegen Drachen und mächtige Heere kämpfen.
Im neu erschienen Buch «Wilde, wüste Geschichten» sind Erzählungen und Kalendergeschichten zusammengefasst, in denen es im wahrsten Sinne des Wortes «strub» zu und her geht. Dabei wird ein weiter Bogen gespannt, der die Vielseitigkeit von Gotthelfs Werk veranschaulicht: Sagen und Legenden, Raubritter und Gespenster, aber auch das Geschehen in einer kleinen, ärmlichen Behausung. Alle haben eines gemeinsam, es geht dabei wild und wüst zu und her.
Ein Pfarrer, der wüste Geschichten schreibt? Der Herausgeber Peter von Matt weist in seinem Nachwort darauf hin, dass dies durch aus kein Widerspruch sein muss. Im Gegenteil. In einem Brief, den Gotthelf 1838 an seinen Cousin Carl Bitzius schrieb, äussert sich der Dichter unmissverständlich: «So ist mein Schreiben gewesen auch ein Bahnbrechen, ein wildes Umsichschlagen nach allen Seiten hin, woher der Druck gekommen, um freien Platz zu erhalten.»
Gotthelf-Kenner dürften die meisten gebotenen Texte kennen, dennoch ist das Buch auch für sie eine Bereicherung: es enthält die Urfassung des «Kurt von Koppigen» und die Erzählung vom Harzer Hans, die in der Rentsch-Ausgabe nicht zu finden ist. Wild uns wüst, wie oft geht es unter Menschen so zu und her, obwohl zu einem besseren Geschick nicht viel erforderlich wäre: ein Bäcker von Zürich übervorteilt seine Kunden und als sein Betrug auffliegt, zündet er die Stadt an, statt sich zu besinnen. Grob, laut und polternd sind auch die beiden Kurzgeschichten von Bänz am Weihnachtsdonnstag. Der Knecht kündigt seine Stelle und vertut sein Geld in den Wirtshäusern. Er betrinkt sich, wird laut und grob, schimpft über alles und jeden bis er unsanft vor die Tür gesetzt wird. Zuletzt endet er als Bettler und Dieb, der seine Kinder schlägt. Wilde, wüste Geschichten! Auch Kurt von Koppigen hätte wohl so geendet, wenn nicht ein übersinnliches Erlebnis in einer kalten Winternacht im Wald ihn zum Guten verändert hätte. Nur eben, es war nicht ein Engel mit leiser Stimme, der ihn sanft an der Schulter berührte. Es war ein ziemlich ruppiges Erlebnis, das den Raubritter dazu brachte, sich zu bekehren…
Eine Erzählung des Buches wurde erst in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts publiziert, weil darin der Bauernkrieg thematisiert wird: Berner Patrizier, die das Landvolk während und nach dem Krieg von 1653 quälten und ausplünderten, wurden nach ihrem Tod zu einer grauenvollen Strafe verurteilt. Ale arme Seelen wurden sie vom Stadtfriedhof in ein Bergtal weggeführt, um dort von den Rotentaler Herren – bösen Geisten aus der Vergangenheit – gemartert zu werden! Eine schauerliche Geschichte. Aber Gotthelf wäre eben nicht Gotthelf, wenn er nicht spätestens am Ende so einer Geschichte auch den Weg zum guten weisen würde: wer zum Wohle seiner Mitmenschen sich einsetzt, hat vor den Rotentaler Herren nichts zu befürchten.