Im kommenden Jahr wird das Brückenbuch des bekannten Lützelflüher Historikers Max Frutiger 40 Jahre alt. Das ist mehr als Grund genug, dieses schöne Buch wieder einmal zu lesen! Die Lektüre des umfangreichen und reich illustrierten Bandes ist so lohnend wie am ersten Tag.
Lehnen wir uns einen Moment zurück und stellen wir uns vor, was dieses Bauwerk, das mehr als 300 Jahre alt wurde, alles erlebt hat. Während des Bauernaufstandes von 1653 ertönten hier die Rufe von Meldereitern, der Widerhall der klopfenden Pferdehufe auf den Planken war zu hören. Obmann Niklaus Leuenberger selbst war es, der dem Wachtmeister Ulrich Kipfer vom Waldhaus bei Lützelflüh die Order gab, Wachtposten aufzustellen. Der Wachtbefehl des Berner Bauernanführers vom 19. März ist erhalten geblieben und im Buch abgedruckt. Kipfers Wache funktionierte sehr gut, wie ab Seite 80 nachgelesen werden kann. Ein Bericht hält fest, dass als Handwerker und Bettler verkleidete Soldaten das Schloss Brandis zu erreichen versuchten. Die Brücke konnten sie passieren, aber als sie das Dorf erreichten, wurden sie von einem Posten aufgegriffen. Als die drei Verkleideten keine «Passporten und Passzedel» vorweisen konnten, drohten ihnen die Wächter mit erhobenen Halparten und Knüppeln. Und schickte sie weg: «Oh ihr Schelmen, machend üch wider zrugg»
Die Brücke erlebte 140 Jahre später den Kriegslärm vom Einfall der Franzosen, wie Max Frutiger schildert. Der Historiker dokumentiert detailliert und bildhaft die unheilvollen Geschehnisse dieser Zeit und wie die Bevölkerung unter den plündernden und marodierenden französischen Husaren zu leiden hatte: «Scheu und verängstigt sahen die Dorfbewohner die Franzmänner über die Brücke ziehen, diese fremden Teufel, die so komisch welschten, dass man sie nicht verstand». Die Angst war nicht unbegründet, wie der Chronist mit zahlreichen Beispielen belegt!
Die Brücke von Lützelflüh wurde im Jahr 1584 erbaut, es herrscht in dieser Zeit das «Brückenfieber» im Emmental. Die Bevölkerung in der Region nimmt zu, Handel und Gewerbe fordern schnellere und sichere Zufahrten in die Täler. Und Brücken sollen von Fuhrwerken überquert werden können. Zuvor gab es meist nur einfache Stege für Fussgänger, wenn überhaupt! Meist wurde die Emme, die damals ein viel flacheres Ufer hatte, über eine Furte überquert. Gerade für Ross und Wagen war dies gefährlich, Unfälle mit schwerwiegenden Folgen waren keine Seltenheit!
Im Kapitel «Der Eggiwylfuehrme und syner Gspane» wird von den Wassergrössen berichtet, die das Emmental immer wieder erlebt habt. In der Sprache Gotthelfs berichtet der Historiker, was geschieht, wenn die Emme anschwillt und zu einem tosenden Sturmwasser wird. Ungestüm, wild, tosend und brüllend zieht sie verwüstend durch das friedliche grüne Tal! Eggiwylfuehrme nennt sie seit der Zeit der Flösser der Volksmund, wenn sie mit lautem Geschiebe das Tal hinunter fährt! Wie Max Frutiger festhält, hat die Brücke zu Lützelflüh alle Fluten überstanden. Wohl wurde sie immer wieder beschädigt und bei der grossen Wasserkatastrophe von 1837 fast mitgerissen (Vorschieben der Brücke auf einem Joch). Allein sie bestand auch diese Wassernot, die gemäss Frutiger zu den grössten gehörte, den das Emmental je erlebt hat.
Im 19. Jahrhundert, die Brücke war damals schon mehr als 200 Jahre alt, gab es wiederholt Bestrebungen, sie durch einen Neubau zu ersetzen und die Verwaltung an den Kanton zu übertragen. Aber erst kurz vor der Jahrhundertewende waren die neuen Pläne spruchreif und alle Verträge für einen Neubau unterzeichnet. An die Stelle der ehrwürdigen alten Holzbrücke trat eine Eisenkonstruktion, die schon nach 70 Jahre wieder abgerissen werden musste, weil sie rostete! Im Bericht des damaligen Gemeindeschreibers Carl Haldimann klingt auch etwas Wehmut mit, wenn er den Abbruch der Holzbrücke wie folgt protokolliert: «Für spätere Überlieferung wird hier an dieser Stelle davon Akt genommen, dass die im Jahr 1584 (…) erbaute hölzerne Brücke zu Lützelflüh vom 18. bis 22. Dezember 1902 abgebrochen worden ist». Ferner schreibt er, dass eine wohlgelungene Photografie der Brücke dem Archiv zur Aufbewahrung übergeben wurde.
Ganz abgebrochen? Nicht ganz, eine Einfahrt der Brücke ist erhalten geblieben und diente als Remise. Sie steht heute bei der alten Mühle (heute Kulturmühle) in Lützelflüh. Wenn Du, lieber Leser, vorbeikommst, halte einen Moment inne und höre auf die alten Erzählungen, an die sich dieses einzigartige Bauwerk erinnert. Vielleicht daran, wie sie regelmässig von einem berühmten Schriftsteller und Pfarrer überquert wurde, der in der Dunkelheit auf der Hut sein musste, weil ihm die Nachtbuben nachstellten…
Das Buch von Max Frutiger erschöpft sich nicht mit dem ausführlichen Bericht über die Brücke. Der Historiker geht detailreich auf das Zollwesen ein, schildert das gefährliche Leben der Flösser und weiss vieles über die «Schächeler» zu erzählen. Die Menschen also, die im Emmenschachen ein meist karges Leben führten und mit den Fährnissen des Wetters zu kämpfen hatten. Und damit, dass sie bei den Bauern auf der sonnigen Terasse keinen guten Ruf hatten! Aber: «Nirgends wandte sich die Lage, im grossen gesehen, so zum Guten wie in den Schächen», folgert Max Frutiger, wenn er die Entwicklung der letzten hundert Jahre betrachtet. Das Kapitel wird abgerundet mit den Illustrationen einiger Schachenhäuser wie dem «Micheli-Hüsli», von denen die meisten leider verschwunden sind.
Das Buch ist leider vergriffen. Mein Exemplar stammt vom Buchantiquariat Libretto in Langnau. Das Antiquariat ist beim Auffinden weiterer Ausgaben gerne behilflich. Ein Band ist zurzeit auf dem Emmental Shop vorhanden. Zum Thema Holzbrücken ist 2016 ein neues Buch von Hanspeter Buholzer erschienen: Holzbrücken im Emmental. Blogbericht, Artikel in der Wochen-Zeitung