Die Geschichte soll sich vor etwa 2500 Jahren in Athen zugetragen haben: Ein Schüler hat sich einen ganzen Stapel mit Weisheitsbüchern gekauft und ist gerade dabei, diese nach Hause zu tragen. Ganz zufällig erblickt ihn dabei sein Philosophielehrer und ruft ihm lachend zu: «Es genügt nicht, viele Bücher zu besitzen. Du musst sie auch lesen, mein Junge!» Wir wissen nicht, ob diese Anekdote eine Fortsetzung hat, interessant an der kurzen Geschichte ist aber immerhin, dass schon im antiken Athen Weisheitsbücher ein begehrtes Gut waren! Und die Athener waren nicht die ersten, die ihre Lebensweisheiten niederschrieben. Das taten schon die Ägypter, gute 1000 Jahre früher! Auch im alten Testament finden wir Weisheitsbücher; die meisten von uns kennen die Sprüche Salomos und Kohelet, den Prediger Salomo. Etwas weniger bekannt, weil nicht in allen Übersetzungen zu finden, sind das Buch der Weisheit und Jesus Sirach. Viele sind zudem der Meinung, dass auch der Jakobusbrief hierhergehört.
Werden wir klüger, wenn wir Weisheitsbücher lesen? Nein, jedenfalls nicht bei einmaliger, flüchtiger Lektüre. Weisheit ist weit mehr, als sich Wissen anzueignen. Weisheit ist Wissen, Erfahrung und unsere eigene Haltung. Die Art und Weise also, wie wir unser Leben führen. Die hier vorgestellten Bücher liefern auch keine fertigen Rezepte. Das, was wir hier lesen, müssen wir letztendlich immer für uns selbst interpretieren. Wenn Epiktet beispielsweise sagt, «Erkenne dass deinige», oder «Schweige zumeist», dann besteht die erste Aufgabe darin, in Ruhe darüber nachdenken, wie wir solche guten Ratschläge gewinnbringend umsetzen können. Wir stehen damit vor einem Tor, über dem die wohl wichtigsten aller Lebensweisheiten eingraviert ist und die den Leser bei der Lektüre von Seite zu Seite begleiten sollte: «Erkenne dich selbst!» Selbsterkenntnis ist die Schule der Weisheit, sagt Baltasar Gracián. Was aber ist Selbsterkenntnis? Es ist unser unvoreingenommener Blick auf uns selbst!
Weisheit erfahren stellt eine wichtige Forderung an uns: Nachdenken! Und beim Nachdenken Vorurteile erkennen, die es zu überwinden gilt. Denn freies und folgerichtiges Denken erträgt keine Vorurteile. Und keine Ideologie, welche uns Denkschablonen aufzwingen will. Ideologie baut stets krumme und schiefe Modelle der Welt, die nicht verändert werden dürfen und die letztendlich an der Wirklichkeit zerschellen müssen!
Die Weisheitsbücher, die ich im folgenden kurz vorstellen möchte, haben mehrere Gemeinsamkeiten. Sie sind anschaulich und leicht verständlich. Ihre Lebensweisheiten sind alltagstauglich, sie sind also praktisch und sofort anwendbar! Und sie stammen alle aus früheren Jahrhunderten, keines ist ein Kind der Gegenwart. Dies ist nicht als Absage an zeitgenössische Literatur zu verstehen, es ist einfach nur das Ergebnis meiner persönlicher Vorlieben.
Epikur – Der philosophische Garten
Die Lehre des Epikur war (und ist) wohl eine der am meisten missverstandenen. Der Begriff «Lust» lässt sich eben ganz unterschiedlich interpretieren! Aber alles schön der Reihe nach. Epikur, der grosse Weise von der ägäischen Insel Samos lebte von ca. 341 bis 271 vor Christus. Der wissbegierige Grieche kam schon mit 18 Jahren nach Athen, das Zentrum der Gelehrsamkeit der damaligen Welt, eine Universitätsstadt wie es sie sonst nirgendwo gab!
Epikur muss schon damals viel über das Leben nachgedacht haben, denn schon im Jahr 306 kaufte er in Athen ein Grundstück und baute seinen philosophischen Garten. Dort pflegten er und seine Schüler, die Epikureer, ein stilles Leben: Gute Gespräche, bescheidenes Essen und die Wissenschaft standen im Zentrum des Lebens. Epikur lehrte: Lustvoll und damit glücklich leben kann man dann, wenn man sich von den Pflichten des Staates zurückzieht und im Kreis guter Freunde ein ruhiges Leben führt! Daraus wurde die Philosophie der Lust. Natürlich gab es Neider, die argwöhnten, er, Epikur, wolle sich nur vor der Verantwortung drücken! Und, monierten sie weiter, der Garten des Epikur sei zum Zentrum der Völlerei geworden. Nichts davon war wahr! Epikur lehrte ja gerade, dass auch das exklusivste und teuerste Mahl nicht mehr Lust bietet als Brot und Käse! Ja alles, was über die natürlichen Bedürfnisse hinaus gehe, sei von Übel, so der Samier. Epikur ist mit seiner Lehre erstaunlich zeitgemäss. Sie ist ein Plädoyer dafür, sich im Leben mit weniger zufrieden zu geben.
Epikur’s gesammelte Schriften sind heute in verschiedenen Verlagen erhältlich. Zum Beispiel bei dtv/Artmis, wo das Buch den Titel «Von der Überwindung der Furcht» trägt. Es enthält die gesammelten Texte des Meisters sowie einzelne Schriften seiner Schüler und Nachfolger. Der Insel Verlag hat ein Taschenbuch von und über Epikur unter einem sehr passenden Titel veröffentlicht: Philosophie der Freude!
Epiktet – Handbüchlein der Moral
Selbst aufgeschrieben hat Epiktet, der zwischen 50 und 130 in Rom und Nikopolis lebte, vermutlich keine Zeile. Dass seine Lehre zu unserem grossen Glück erhalten geblieben ist, verdanken wir seinem Schüler Arrian. In zwei philosophischen Büchern hat der Schriftsteller Epiktets Denken festgehalten. Unter ganz verschiedenen Titeln sind diese im Buchhandel heute erhältlich. Im Insel Verlag beispielsweise gibt es eine Ausgabe mit dem Titel «Wege zum glücklichen Handeln»; bei Diogenes heisst das kleine Werk «Handbüchlein der Moral». Auf der ersten Seite stehen Sätze, die das ganze folgende Buch prägen, es geht darum dass wir erkennen, was in unserer Macht steht. Und was nicht. Denken, Handeln, Meiden und Verlangen sind Dinge in uns, sie stehen in unserer Macht. Ganz anders sieht es bei unserem Körper, Besitz und Ansehen aus. Das sind Werte, die wir nicht oder bestenfalls indirekt kontrollieren können. «Und jetzt merke auf», fährt der antike Weise fort: Wenn Du das, was in deiner Macht steht mit dem verwechselst, was nicht in deiner Macht steht, dann wirst du unglücklich werden.
Epiktets Ratschläge sind geprägt von faszinierender Klarheit und Prägnanz. Wer sich fürchtet, dem rät Epiktet, genau zu betrachten, was ihm Furcht einflösst. Könnte es sein, dass wir uns nicht von der Sache selbst fürchten, sondern nur von Vorstellung davon? Wer Pläne macht, dem gib Epiktet den Rat, auch an die Probleme zu denken, die sich dem Vorhaben in den Weg stellen könnten! Der Menschenfreund Epiktet stand mitten im Leben, er war viele Jahre Sklave. Leid, Schmerz und Entbehrung waren ihm nicht fremd. Das ist spürbar! Aber auch die Zuversicht, dass wir, wenn auch nicht alles, so doch vieles, was unser Leben zum Besseren wenden kann, in unseren eigenen Händen halten!
Baltasar Graciàn – Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit
«Wer es gelesen oder auch nur darin geblättert hat, [wird] es besitzen wollen», sagte Arthur Schopenhauer, der das Buch der berühmten Spaniers im 19. Jahrhundert in die deutsche Sprache übersetzt hat. Seine Übersetzung ist so gut, dass bis heute keine neuere deutsche Fassung des «Oraculo manual y arte de prudencia» entstanden ist. Aber warum gerade Orakel? Diesen Begriff bringen wir heute eher mit einem Wahrsager in Verbindung und damit hat dieses überaus kluge Buch überhaupt nichts zu tun. Früher war ein Orakel eben auch ein Ratgeber! Ein weiser, dürfen wir anfügen. Baltasar Graciàn lebte von 1601 bis 1658, er war Schriftsteller, Professor und Jesuit.
Um ihn und sein Werk besser verstehen zu können, müssen wir uns in die höfische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts in Spanien begeben. Hier entstand das Hand-Orakel, das aus 300 gesammelten Aphorismen zur klugen Lebensführung besteht. Das Buch richtete sich an eine gebildete und belesene Gesellschaft der Oberschicht. Dies darf aber nicht als Einschränkung verstanden werden, denn Graciàns Weisheiten sind letztendlich doch für alle Menschen von grossem Wert. Wenn der Jesuit beispielsweise sagt, dass behutsames Schweigen das Heiligtum der Klugheit sei, dann ist das universell und zeitlos gültig. Ebenso die Erkenntnis, dass alles Vortreffliche stets wenig und selten ist. Gracian wird aber auch zum geerdeten Praktiker, wenn er fordert, dass man stets mit Überlegung zu Werke gehen soll.
Graciàn war ein Mann von Welt, Höflichkeit, gutes Betragen und Freundschaft waren ihm wichtig: «Ein schönes Benehmen ist der Schmuck des Lebens.» Unzugänglichkeit hält Graciàn für einen Fehler, er warnt aber auch davor, sich bei anderen gemein zu machen. Und: «So sehr darf man nicht allen angehören, dass man nicht mehr sich selbst angehörte.»
Arthur Schopenhauer – Aphorismen zur Lebensweisheit
Der Philosoph aus Frankfurt darf mit Fug und recht als einer der grössten Denker der Menschheitsgeschichte bezeichnet werden. Sein schriftstellerisches Werk fasziniert seine Anhänger bis heute! Jede Kritik prallte an ihm ab wie ein Gummiball an einem ehernen Schild. Er war ein Sprachgenie und verfasste Traktate zur Stilistik, die auch heute noch gültig sind. Sogar seine äussere Erscheinung muss sehr beeindruckend gewesen sein!
Was können wir von Schopenhauer lernen? Natürlich ist da sein Hauptwerk, «Die Welt als Wille und Vorstellung» in zwei Bänden. In diesen erkenntnistheoretischen Büchern befasst sich der in Danzig geborene Genuis mit einer Lehre, die sich in einem kurzen Satz zusammenfassen lässt: Die Welt ist meine Vorstellung. Es soll nun aber hier von einem anderen Buch Schopenhauers die Rede sein, einem Spätwerk mit dem Titel «Aphorismen zur Lebensweisheit» Und das Buch hält, was der Titel verspricht. Schopenhauer schafft dabei gleich auch eine neue Gliederung: Von dem was einer ist, von dem was einer hat, von dem, was einer vorstellt. Besonderes Gewicht legt der Philosoph auf das, was wir sind. Ein heiteres Gemüt und ein fröhlicher Sinn betrachtet Schopenhauer als sehr wichtig. Deshalb rät er, alles zu tun, was zu unserer Heiterkeit beiträgt. Da wäre vor allem die Gesundheit, deren Blüte die Heiterkeit sei! Der Mann mit dem Backenbart rät sogar zu Diäten, kalten Bädern und zur Meidung von allem, was der Gesundheit abträglich ist.
Wer alles hat, ist trotzdem arm, wenn er an sich selbst nicht genug hat! Arthur Schopenhauer gewichtet unsere geistigen Fähigkeiten höher als alle anderen Güter. Wer einen wachen Geist und rege Gedanken hat, dem ist nie langweilig! Er hat auch weniger äussere Bedürfnisse, da er an sich selbst genug hat. Das klingt asketisch, war Schopenhauer bescheiden? Überhaupt nicht! Die Bescheidenheit erschien ihm immer irgendwie verdächtig, weil sie in seinen Ohren nach Gleichmacherei klang, im Geiste war Schopenhauer Aristokrat. Er war wohlhabend und schätzte dies, dank seinem Wohlstand konnte er sich voll und ganz der Philosophie widmen. Im Original tönt das so: «Ich glaube keineswegs etwas meiner Feder unwürdiges zu tun, indem ich hier die Sorge für Erhaltung des erworbenen und des ererbten Vermögens anempfehle.»
Die Aphorismen zur Lebensweisheit sind grossartig! Sie enthalten tiefsinniges, wie die Betrachtung der Lebensalter, aber auch ganz praktische Ratschläge für den Alltag. Wie etwa diesen hier: «Der Morgen ist die Jugend des Tages: Alles ist heiter, frisch und leicht: wir fühlen uns kräftig und haben alle unsere Fähigkeiten zu völliger Disposition. Man soll ihn nicht durch spätes Aufstehen verkürzen…»
Die Sprüche Salomos (Sprichwörter)
Im alten Testament finden wir eine Sammlung alter jüdischer Weisheiten, ungeordnet, teils sich wiederholend, in jedem Fall aber hochinteressant. Und alle Aspekte des Lebens kommen zur Sprache. Besonders beliebt ist der letzte Abschnitt, der die Tugenden der Frau lobt! Der wichtigste Spruch aber steht aber ganz am Beginn, im siebten Vers: «Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis.» Jakobus, der Bruder von Jesus, muss diesen Spruch gekannt haben. Denn in seinem Brief gibt er denjenigen, die nach Weisheit streben, diesen Rat: Bittet Gott darum, denn er gibt gerne! Nur eines darf man laut Jakobus nicht: Zweifeln.
Aber zurück zu den Sprüchen. Wer sie liest, sollte nicht zuviele auf einmal vornehmen. Am meisten Gewinn dürften diejenigen haben, die regelmässig ein paar der Verse auf ein Blatt Papier schreiben und dieses im Verlauf eines Tages immer wieder hervorholen. Dann kann sich erfüllen, was die Sprüche prophezeien: «Weisheit wird in dein Herz eingehen, und Erkenntnis wird deiner Seele lieblich sein. Besonnenheit wird dich bewahren, und Einsicht dich behüten.»
Verwendet Quellen: Epikur, Von der Überwindung der Furcht, dtv/Artemis. Epiktet, Handbüchlein der Moral, Diogenes Verlag. Baltasar Graciàn, Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. Arthur Schopenhauer, Werke in fünf Bänden, Haffmans Ausgabe. Luther Bibel, Fassung von 1984.