«Nach einem langen Arbeitstag können wir uns nicht einfach hinstellen und mit dem Singen beginnen». Das war die unerschütterliche Überzeugung unseres Dirigenten, und er hatte damit auch absolut recht! Also begann die Männerchorprobe am Mittwoch Abend um 20 Uhr in der Mehrzweckhalle mit einigen Entspannungs- und Lockerungsübungen. Wir Chorsänger nannten dies scherzhaft «Einturnen»: Tief ein- und ausatmen, Schulterrollen, Arme und Beine schütteln, leichtes Hüpfen an Ort und noch einiges mehr. Daran schlossen sich die ersten Singübungen an. Dann erst wurden die Notenblätter hervorgeholt! Was für Lieder waren darauf zu finden? Ein Liederprogramm aus dem Jahr 1999 belegt, wie erstaunlich vielseitig der Chor war – und es bis zu seiner Auflösung blieb. Natürlich wurden fröhliche und unbeschwerte Lieder favorisiert, wie etwa «Aus der Traube in die Tonne» oder «Grüss mir die Reben, Vater Rhein». Sehr gerne gesungen während meiner Aktivzeit wurde auch der ikonische «Fliegermarsch», der uns vom Fliegen über den Wolken, von Freiheit und Weite träumen liess.
Geselligkeit und Kameradschaft, das war den Männern wichtig! Manche Probe fand ihr Ende erst in den späten Nachtstunden, wenn der Mond silbrig am Himmel leuchtete und den Sängerkameraden ein Zeichen dafür war, nun doch «Feierabend» zu machen. «Zyt für e Fride», wurde das auch genannt. Auf der Männerchorreise, beim Chlousehöck oder an einem andere Anlass gab es viel zu erleben! Und es gab sie noch, die heiteren Gruppenspiele, wie «Bi dumm chehrts um» oder «Wir wollen eine Räuberbande gründen». Es wurde viel und herzhaft gelacht, dafür lege ich an dieser Stelle Zeugnis ab! Getrübte Momente waren sehr selten. Und wenn der Kellner die Rechnung brachte, war vielleicht der Kommentar zu hören, «möcht nume wüsse, wien-i das aues söu treiche, was i afe zahlt ha!»
Natürlich kannten wir auch ernste Lieder, etwa das Grablied von Matthias Claudius: «Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit; und alle Welt vergehet mit ihrer Herrlichkeit.» Wir stimmten es bei Gottesdiensten an, oder wenn ein Sängerkamerad und Freund gestorben war. Diese bisher erwähnten Lieder sagen Ihnen nichts? Es sind traditionelle Männerchorlieder, manche entstanden im 19. Jahrhundert, als Männerchöre ihre erste Blütezeit hatten! Unzählige Weisen, die damals entstanden, wurden gesungen bis weit hinein in das 20. Jahrhundert. Und wenn das «schwarzbraune Mägdelein» in unseren Ohren eher etwas seltsam klingt, so liegt das einfach daran, dass es ein Kind seiner Zeit ist. Es war aber auch zeitgenössisches vom Chor zu hören, Nenas «99 Luftballons» zum Beispiel.
Das wichtigste Ereignis im Jahr war der Männerchorabend, auf den mehrere Monate hingearbeitet wurde. Neue Lieder wurden einstudiert, ein Rahmenprogramm gestaltet und die Theatergruppe traf sich nach den Sommerferien zu den Lesungen und Proben. Am ersten Samstag im Dezember war es dann endlich soweit: In der Mehrzweckhalle wurden Tische aufgestellt und hübsch dekoriert, mit Tannästen, Sternen und Kerzen, schliesslich hatte die Adventszeit begonnen. Auch die Bühne musste vorbereitet werden, die Kulissen für das Theater wurden aufgestellt, alle Möbel und Requisiten besorgt und bereitgestellt. Der Männerchor konzertierte vor der Theaterkulisse, das Aufstellen der Kulisse in der Pause nach dem Konzert hätte zu lange gedauert! Am Abend ab 19 Uhr trafen die ersten Gäste ein, der Eintritt kostete 12 Franken. Nun war der Saal schön erleuchtet, es herrschte eine festliche Stimmung, bei den Tischen roch es frisch nach Tannenharz. Genau um 20 Uhr öffnete sich der Vorhang, die Besucher wurden mit den ersten Lied erfreut, dann richtete der Präsident ein paar Worte an die Gäste: Schön, dass Ihr zu uns gekommen seid! Wier freuen uns darauf, diesen Abend mit Euch zu verbringen.
Warum verschwanden so viele Männerchöre in den letzten Jahrzehnten? Es gibt verschiedene Antworten darauf und an allen ist wohl etwas wahres dran. Jungen Menschen bietet sich heute ein weitaus grösseres Freizeitangebot an, als vor 50 oder 100 Jahren. Männerchöre konnten in früheren Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielen, sie gestalteten das Leben im Dorf mit, die Mitgliedschaft war auch mit Prestige verbunden. Die Unterhaltungsabende mit einem Konzert und einem Volkstheater waren gut besucht, sie waren Thema am Stammtisch, aber auch an der Gemeinderatssitzung! In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwand diese Bedeutung zusehends.
Mit dieser Entwicklung ging die Vergreisung der Chöre einher. Wenn das Durchschnittsalter 60 Jahre überschritten hat, muss man keine jungen Mitglieder mehr suchen, es ist zu spät. Das wurde den Chören zum Verhängnis. Man muss den Mitgliedern zugute halten, dass sie kreativ und ausdauernd waren, wenn es darum ging, junge Sänger zu rekrutieren. Das Liederprogramm wurde aufgefrischt, Chöre schlossen sich zusammen, es gab Schnupperabende und in den Zeitungen wurden Inserate aufgegeben. Doch all diese Massnahmen konnten bestenfalls das Ende hinauszögern. Aufhalten konnten sie es nicht.
Er ist nicht mehr, der Männerchor. Aber die Erinnerungen bleiben, zum Beispiel die an einen Chlousehöck, als wir «Sing einmal» spielten. Dabei singen alle «O lieber Aschi, sing einnmal, sing einmal, sing einmal…» Der angesprochene muss dann solo ein paar Takte singen, ganz egal was. Irgendwas …aber sofort! Ist ihm dies gelungen, setzt der Chor wieder ein: «Hat’s gut gemacht, hat’s gut gemacht, drum wird er jetzt nicht ausgelacht». Und dann? Dann kommt der nächste Sänger an die Reihe!
Der Männerchor in dem ich 10 Jahre lang Aktivmitglied war, wurde 1920 gegründet, er wäre heuer 100 Jahre alt geworden. Was war das für eine Zeit, als der Chor entstand? Ein paar Hinweise finden sich in den erhaltenen Statuten vom 14. Mai 1920. Paragraph 2 belegt, dass nicht jeder einfach aufgenommen wurde: «Wer dem Verein als Mitglied beizutreten wünscht, hat sich bei einer Übung anzumelden. Die Aufnahme erfolgt einzeln und durch geheime Abstimmung.» Es konnten von den Vereinsoberen noch Bussen ausgesprochen werden: Wer mehr als zehn Minuten zu spät zur Probe kam, musste 10 Rappen zahlen. Wer im Probelokal rauchte, wurde mit 20 Rappen gebüsst! Das klingt heute nach sehr wenig. 1920 war das noch Geld.
Einige statutarische Regeln wirken aus heutiger Sicht streng! Wer nicht zur Probe kommen konnte, hatte sich rechtzeitig abzumelden. Es wurde sogar festgesetzt, was als Absenz plausibel war und was nicht. So konnte der Besuch bei der Freundin nicht als Entschuldigung geltend gemacht werden. Beim Militärdienst sah es natürlich anders aus. Wer auszutreten wünschte, musste fünf Franken bereithalten, es sein denn, ein Ortwechsel war der Grund. Und, nicht vergessen: «Wer aber zurückkehrt, ist ohne weiteres wieder Vereinsmitglied.»
Es sind zwei Gedanken, die hier zum Schluss folgen. Das Verschwinden der Männerchöre ist nicht das Ende vom Lied, es werden andere, neue Formen des gemeinsamen Singens gefunden und mit Erfolg praktiziert. Die Projektchöre zum Beispiel, die sich einem modernen und trendigen Liedgut verschrieben haben, das «fägt»! Der zweite Gedanke betrifft das freiwillige Engagement im weiteren Sinne. Chöre, aber auch andere Vereine, Hilfsprojekte und Veranstaltungen werden für immer verschwinden, wenn Menschen nicht mehr bereit sind, sich freiwillig zu engagieren. Auch jedes noch so kleine organisierte Engagement bereichert das Leben im Dorf und ist wertvoll. Wird es mangels Interesse aufgegeben, ist dies schade, weil das Miteinander im Dorf darunter leidet.